5/27/2007

Die Welt als Mann erleben

Schon lange spiele ich mit dem Gedanken, mich als Mann zu verkleiden, um zu sehen, ob mir die Welt anders begegnen würde. Aber schon bei den Vorbereitungen brach ich das Experiment ab: lässige Kappe von meinem Freund, dessen eckige Sonnenbrille, seine Jeansjacke – und dennoch sah ich unverkennbar weiblich aus: die Löcher in den Ohren, die weichen Gesichtszüge, schwer zu verbergende Rundungen. Es war aussichtslos. Und dann stieß ich auf Norah Vincent und ihr grandioses Buch „Self-Made Man“. Sie hat es geschafft, über ein Jahr lang glaubwürdig, wenn auch oft als „etwas feminin“ und „möglicherweise schwul“ wahrgenommen, durchs Leben zu gehen. Ein Buch, das mir wahrlich die Augen geöffnet hat – und einen wunden Punkt aufgedeckt hat, nämlich das weibliche Überlegenheitsdenken – siehe Rezension.

Ein Mini-Experiment erlaubte ich mir dennoch: ich ahmte männliches Verhalten nach. Ich ging in die Bäckerei und sagte: „ein Korn-Croissant“ – und zwar ohne zwanzig „grüß Gott“, „bitte“, „danke“, „schönen Tag“ und „auf Wiedersehen“. Ich wurde genauso freundlich bedient wie bei meinem Auftritt als Frau am nächsten Tag. Was lerne ich daraus? Vielleicht sollte ich einfach aufhören, mich als Frau indirekt für meine bloße Existenz zu entschuldigen.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Vor einigen Monaten hat jemand dieses Buch für unseren Literaturzirkel vorgeschlagen - zwar kam dafür leider bei der Abstimmung keine Mehrheit zustande, ich habe damals aber dennoch ein wenig nachgeforscht und bin auf eine interessante Rezension von Martin Suter gestoßen: http://www.sonntagszeitung.ch/dyn/news/fokus/589787.html.
Was nun Ihre/Deine Kritik angeht, so hat sie mich insofern zusätzlich neugierig auf diesen Erfahrungsbericht gemacht, als sie eine durchaus nicht selbstverständliche Bestätigung der Vincentschen Selbstkritik weiblichen "Überlegenheitsdenkens" beinhaltet. Ein Buch dieser Art begibt sich ja in die Gefahr, eine bloße Bebilderung aller möglichen (unzweifelhaft existierenden) sexistischen Praktiken zu sein - und damit höchst redundant. Umso mehr bin ich jedoch erstaunt, dass nach der von der Autorin durchaus erfahrenen Empathiefähigkeit der Männer das Fazit bleibt, Männer und Frauen seien "as separate as sects". Gerade diese starre Schematik des typisch "Männlichen" bzw "Weiblichen" scheint mir eben gerade ein soziales Konstrukt zu sein und nicht "angeboren". (Insofern passt das doch eher zu einer Eva Hermann, oder?) Im übrigen bin ich außerdem sehr froh darüber, dass Frauen in den meisten Alltagssituationen mehr Höflichkeit an den Tag legen als Männer - ohne das gleich unterwürfigst in "obsessively saying sorry" ausarten zu lassen.
So, jetzt muss ich dieses Buch aber ENDLICH bald einmal selber lesen!
Liebe Grüße, Roman
literaturzirkel@aon.at